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RealCo – Virtual Reality Companion für PatientInnen mit Chronischer Niereninsuffizienz

Wissensdatenbank Motivation und Zufriedenheit C.1: Verbessertes Selbstmanagement mit Virtual Reality Companions

Mehr als 30 Jahre nachdem der Science Fiction-Autor Neil Stephenson [1] den Begriff «Metaverse» geprägt hat, ist die Vision, unsere sozialen Interaktionen in eine virtuelle Realität zu verlagern, realisierbar. Avatare in Kombination mit leistungsstarken Chatbots ermöglichen es, zwischenmenschliche Kommunikation mit ihren verbalen und non-verbalen Elementen in Virtual Reality (VR) zu simulieren. Doch können wir uns vorstellen, Rat bei einer intelligenten Maschine zu suchen, die von einem Avatar verkörpert wird? 

Problembeschreibung, Forschungsfrage und Relevanz

Chronisch kranke PatientInnen haben einen hohen Beratungsbedarf, da sie kontinuierlich medizinische Unterstützung und Aufklärung benötigen, um ihren Krankheitsverlauf zu verstehen und effektiv darauf einzuwirken [2]. Dies gilt auch für PatientInnen mit chronischer Niereninsuffizienz (CNI), die eine der zehn häufigsten Todesursachen weltweit darstellt [3]. In der Schweiz betrifft CNI etwa jeden zehnten Erwachsenen, insbesondere ältere Menschen sowie PatientInnen mit Diabetes und Bluthochdruck [4]. Da CNI nicht heilbar ist, liegt der Fokus auf der Verlangsamung des Krankheitsverlaufs und der Verzögerung des Nierenversagens, um die Behandlungskosten zu senken und die Lebensqualität der PatientInnen zu verbessern [5]. Forschung hat gezeigt, dass Patientenaufklärung und -schulung den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen, und somit im Falle von CNI den Dialysebeginn verzögern und das Überleben verlängern können [2], [6]. 

Angesichts der steigenden Anzahl an CNI-PatientInnen und dem Mangel an medizinischen Fachkräften liegt der Einsatz digitaler Lösungen für die Patientenaufklärung- und schulung nahe. Mobile Apps oder Chatbots, die darauf ausgerichtet sind die Gesundheitskompetenz zu erhöhen oder Verhaltensveränderungen auszulösen, haben sich in Studien als wirksame Interventionen und Ergänzungen für die traditionelle Patientenaufklärung erwiesen [7], [8]. Mit der kommerziellen Verfügbarkeit von All-In-One-VR-Brillen, werden die visuellen und interaktiven Möglichkeiten von Virtual Reality eingesetzt, um komplexe medizinische Sachverhalte vorstellbar zu machen oder Handlungskompetenzen zu trainieren, wie z.B. die Durchführung einer Peritonealdialyse zu Hause [9], [10]. Avatare in VR bieten zusätzliche Möglichkeiten solche digitalen Interventionen, um die Qualitäten eines persönlichen Gesprächs zu erweitern. Ein Gespräch mit einem Avatar, der die verbalen Fähigkeiten eines Chatbots mit Gestik, Mimik und Körperhaltung kombiniert, vermittelt PatientInnen das Gefühl sozialer Co-Präsenz in einem dreidimensionalen virtuellen Raum. Dass Avatare die Wirksamkeit von gesprächsbasierten Interventionen für chronisch Erkrankte erhöhen, ist bekannt [11]. Werden die verbalen Fähigkeiten dieser Avatare nicht mit klassischen regelbasierten Q&A-Chatbots, sondern mit modernen Sprachmodellen und Transformern wie GPT realisiert, können sie ein natürliches Gesprächserlebnis schaffen. Beratende Avatare in VR können so zu affektiven «Companions» werden, die sich auf die individuellen Situationen und Befindlichkeiten ihres menschlichen Gegenübers einstellen [12]. Doch sind PatientInnen bereit, sich auf diese völlig neue Form der Mensch-Maschine-Interaktion einzulassen? Und wie muss eine solche Beratung mit einem VR-Companion gestaltet sein damit sie gelingt, d.h. dass PatientInnen den VR-Companion als nutzbar und nützlich empfinden und medizinische Fachpersonen ihn als Entlastung im klinischen Beratungsalltag betrachten? 

Methoden und Vorgehen im Projekt

Um die Akzeptanz eines VR Companions für Chronisch Erkrankte zu evaluieren, wurde im Rahmen des Projekts ein Prototyp iterativ entwickelt und mit medizinischen FachexpertInnen des Kantonsspitals Aarau (KSA) getestet.  

Als Anwendungsfall dient die Patientenaufklärung zur Medikamentengruppe der Sodium-Glucose CoTransporter 2 (SGLT-2)-Hemmer. Erst seit 2019 haben klinische Studien gezeigt, dass die Medikamentengruppe der  SGLT2-Hemmer, die ursprünglich für die Diabetesbehandlung entwickelt wurden, den Verlust der Nierenfunktion verlangsamen [13]. SGLT-2-Hemmer wurden in der Folge für eine grosse Anzahl von CNI-PatientInnen relevant. Da Patienteninformationen primär auf die Behandlung von Diabetes  ausgerichtet sind, die NephrologInnen im persönlichen Beratungsgespräch gefordert, dieses Wissen über SGLT-2-Hemmer effektiv an eine heterogene Patientengruppe zu vermitteln [14]. An diesem Punkt setzt der VR-Companion «RealCo» an. Realco befähigt CNI-PatientInnen, Funktionsweise und Nebenwirkungen von SGLT-2 Hemmern zu verstehen.  

 

Abbildung 1: Kommunikationsmodell aus der Social Robot-Forschung

Die User Experience, das heisst die Wirkung von Realco auf CNI-PatientInnen, wird mit 15 ProbandInnen der Nephrologie des Kantonsspitals Aarau, die je 3 Sitzungen durchlaufen, im Rahmen eines qualitativen Laborexperiments evaluiert. 

Der Forschungsrahmen orientiert sich an einem Kommunikationsmodell aus der Social Robot-Forschung, das um die visuellen Aspekten von VR erweitert wurde [15], [16] (s. Abbildung 1). 

Ergebnisse und Erkenntnisse

Der Prototyp ist eine VR-App (s. Abbildung 2), die in Unity entwickelt wurde und mittels einer Meta Quest 3 VR-Brille genutzt wird. Die Architektur umfasst folgende Komponenten:

  • Der Beratungsdialog umfasst 4-5 Phasen, die durch das multilineare Drehbuch (Twine) definiert werden (1.Begrüssung/Warm-up, 2.Basisinformationen zu SGLT-2-Hemmern, 3.Freier Dialog, 4.Frage zum Kompetenzgewinn, 5.Verabschiedung).
  • Freier Dialog modelliert als Zustandsautomaten (Finite State Machine), der das Zusammenspiel von Patient und Realco kontrolliert, indem er die Zustände des Dialogs (idle, listen, speak, think) und die Übergänge zwischen diesen Zuständen definiert.
  • Language Model API: GPT 4.0 via Microsoft Azure OpenAI (Schweiz)
  • Vektordatenbank: LangChain verwaltet den kontrollierten SGLT2-Wissenskorpus und extrahiert bei einer Frage daraus relevante Informationen, die dann in die Prompts für GPT integriert werden, das mit diesem Input angereicherte, kontextgerechte und natürlichsprachige Antworten liefert.
  • Speech-to-Text und Text-to-Speech via Microsoft Azure.
  • Interaktives User-Feedback zur User Experience ist in die VR-App integriert.

Abbildung 2: RealCo – Virtual Reality Companion

Empfehlungen für die Praxis

  • Der Aufbau und die Validierung eines Wissenskorpus mit ÄrztInnen, die regelmässig Patientengespräche zur Thematik führen, stellt sicher, dass das Dialogsystem über aktuellste und fundierte Informationen verfügt sowie fachlich korrektes und patientengerechtes Vokabular verwendet. So werden die Stärken von Sprachmodellen und Transformern wie GPT genutzt, ohne die Kontrolle über den Inhalt zu verlieren.
  • Effektives prompt engineering setzt voraus, dass Ziele und Phasen des konkreten Gesprächstyps verstanden und definiert sind. Nur so gelingt es den Dialog mit dem Avatar in Gang zu bringen und zu halten. PatientInnen stellen nicht einfach Fragen, nur weil ihnen ein Dialogsystem in Gestalt eines Avatars zur Verfügung steht. Sie wollen begrüsst, durch das Gespräch geleitet, zu Fragen animiert und verabschiedet werden.
  • Ein pragmatisches Betriebsmodell für einen VR-Companion setzt in einer ersten Phase im Kontext eines Spitals ein. PatientInnen nutzen VR-Brillen im Spital, einer Tagesklinik oder Arztpraxis und können so Wartezeiten sinnvoll nutzen. Die Vision einer 24x7 ortsunabhängigen Beratung durch den VR-Companion kann Realität werden, sobald die Durchgängigkeit der Beratung gewährleistet ist. Das setzt voraus, dass Patienteninformationen in den Dialog und die Systemarchitektur integriert werden. Ein hybrides Modell, das innerhalb der VR-Anwendung eine Eskalation zu realen Fachpersonen, beispielsweise bereitgestellt von telemedizinischen Serviceanbietern, ermöglicht, würde Flexibilität und Sicherheit der virtuellen Beratung erhöhen.

Literatur und andere Quellen

[1]         N. Stephenson, Snow crash. in Bantam spectra book. New York: Bantam Books, 1992.

[2]         A. S. Narva, J. M. Norton, and L. E. Boulware, “Educating Patients about CKD: The Path to Self-Management and Patient-Centered Care,” Clin J Am Soc Nephrol, vol. 11, no. 4, pp. 694–703, Apr. 2016, doi: 10.2215/CJN.07680715.

[3]         WHO, “The top 10 causes of death,” Global Health Estimates. Accessed: Sep. 28, 2022. [Online]. Available: www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/the-top-10-causes-of-death

[4]         Forni Ogna, “Prevalence and determinants of chronic kidney disease in the Swiss population,” Swiss Medical Weekly, no. 17, Apr. 2016, doi: 10.4414/smw.2016.14313.

[5]         P.-Y. Martin, “Fortschritte in der Nephrologie: Vorteilhaft für Patienten und Kosten,” Schweizerische Ärztezeitung, vol. 98, no. 45, pp. 1484–1486, Nov. 2017, doi: 10.4414/saez.2017.06160.

[6]         J. A. Wright Nunes, K. A. Wallston, S. K. Eden, A. K. Shintani, T. Alp Ikizler, and K. L. Cavanaugh, “Associations among perceived and objective disease knowledge and satisfaction with physician communication in patients with chronic kidney disease,” Kidney International, vol. 80, no. 12, pp. 1344–1351, Dec. 2011, doi: 10.1038/ki.2011.240.

[7]         M. Milne-Ives, C. Lam, C. D. Cock, M. H. V. Velthoven, and E. Meinert, “Mobile Apps for Health Behavior Change in Physical Activity, Diet, Drug and Alcohol Use, and Mental Health: Systematic Review,” JMIR mHealth and uHealth, vol. 8, no. 3, p. e17046, Mar. 2020, doi: 10.2196/17046.

[8]         L. Laranjo et al., “Conversational agents in healthcare: a systematic review,” Journal of the American Medical Informatics Association, vol. 25, no. 9, pp. 1248–1258, Sep. 2018, doi: 10.1093/jamia/ocy072.

[9]         D. M. Goldsmith, S. Flash, J. Holdnack, and P. F. Brennan, “Designing Immersive Virtual Reality Environments for Supporting Patients at Home: Translating Input From Home Care Nurse Experts to Design Requirements,” CIN: Computers, Informatics, Nursing, vol. 41, no. 3, p. 142, Mar. 2023, doi: 10.1097/CIN.0000000000000895.

[10]       Weltenmacher, “Dialysis Orientation,” Weltenmacher. Accessed: May 28, 2024. [Online]. Available: weltenmacher.de/en/products/dialysis-orientation/

[11]       P. Wonggom, C. Kourbelis, P. Newman, H. Du, and R. A. Clark, “Effectiveness of avatar-based technology in patient education for improving chronic disease knowledge and self-care behavior: a systematic review,” JBI Database of Systematic Reviews and Implementation Reports, vol. 17, no. 6, pp. 1101–1129, Jun. 2019, doi: 10.11124/JBISRIR-2017-003905.

[12]       S. Biundo and A. Wendemuth, “Von kognitiven technischen Systemen zu Companion-Systemen,” Künstl Intell, vol. 24, no. 4, pp. 335–339, Nov. 2010, doi: 10.1007/s13218-010-0056-9.

[13]       H. J. L. Heerspink et al., “Dapagliflozin in Patients with Chronic Kidney Disease,” New England Journal of Medicine, vol. 383, no. 15, pp. 1436–1446, Oct. 2020, doi: 10.1056/NEJMoa2024816.

[14]       T. Maddox and C. Chmielewski, “Virtual Reality in Chronic Kidney Disease Education and Training...Maddox T, Chmielewski C. Virtual Reality in Chronic Kidney Disease Education and Training. Nephrology Nursing Journal. 2022;49(4):329-381,” NEPHROL NURS J, vol. 49, no. 4, pp. 329–381, Aug. 2022, doi: 10.37526/1526-744X.2022.49.4.329.

[15]       E. Broadbent, D. Johanson, and J. Shah, “A New Model to Enhance Robot-Patient Communication: Applying Insights from the Medical World,” in Social Robotics, S. S. Ge, J.-J. Cabibihan, M. A. Salichs, E. Broadbent, H. He, A. R. Wagner, and Á. Castro-González, Eds., in Lecture Notes in Computer Science. Cham: Springer International Publishing, 2018, pp. 308–317. doi: 10.1007/978-3-030-05204-1_30.

[16]       K. Loveys, C. Hiko, M. Sagar, X. Zhang, and E. Broadbent, “‘I felt her company’: A qualitative study on factors affecting closeness and emotional support seeking with an embodied conversational agent,” International Journal of Human-Computer Studies, vol. 160, p. 102771, Apr. 2022, doi: 10.1016/j.ijhcs.2021.102771.

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