Prozessorientierte Strukturen zur Überwindung von Silodenken: Ansätze für eine effektivere Zusammenarbeit im Gesundheitswesen
Wissensdatenbank Strukturen Prozesse (Leisten) Kultur Führungs- und Kulturherausforderung ineffiziente Prozesse Qualität und Sicherheit D.1: Intelligentes Führen von vernetzten Spitälern - Ein digitales SimulationsspielIst Silodenken ein Hindernis für Effizienz im Gesundheitswesen? Dieser Beitrag untersucht, wie isolierte organisatorische Aufbaustrukturen die Zusammenarbeit erschweren und welche Rolle prozessorientierte Ansätze spielen könnten, um diese Barrieren zu überwinden und die Patientensicherheit zu verbessern.
Problembeschreibung, Forschungsfrage und Relevanz
Ist Silodenken ein strukturelles Problem im Gesundheitswesen?
Silodenken im Gesundheitswesen bezeichnet die Tendenz von Abteilungen, Teams oder Fachbereichen, isoliert voneinander zu agieren und in abgeschotteten Strukturen zu arbeiten. Diese fragmentierte Denkweise fördert die Selbstständigkeit einzelner Abteilungen, hindert jedoch den Austausch von Informationen und die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fachgruppen (Trachsel & Fallegger, 2017). Die daraus resultierenden Defizite sind schwerwiegend: Silodenken schafft Kommunikationsbarrieren und führt zu fragmentierten Arbeitsabläufen, die die interdisziplinäre Zusammenarbeit erschweren und zu Behandlungsfehlern sowie Verzögerungen führen können (Braithwaite et al., 2015; Kitch et al., 2008). Zudem führt diese isolierte Arbeitsweise zu ineffizienter Ressourcennutzung und Doppelspurigkeit, was die Versorgung erheblich verteuert und die Patientensicherheit sowie die Behandlungsqualität nachhaltig beeinträchtigt (Deneckere et al., 2013).
Hierarchische Organisationsstrukturen in Spitälern verstärken dieses Silodenken weiter, da sie strikte Abteilungsgrenzen und vertikale Entscheidungswege fördern, die den Informationsfluss und die Zusammenarbeit hemmen (Trachsel & Fallegger, 2017). Oft liegt der Fokus auf abteilungsspezifischen Zielen anstelle einer integrierten, patientenorientierten Versorgung, was die Qualität der Behandlung und die Sicherheit der Patient:innen negativ beeinflussen kann (Braithwaite et al., 2015; Deneckere et al., 2013). Angesichts dieser Herausforderungen stellen sich folgende Forschungsfragen: Wie massgeblich ist die traditionelle Organisationsform in Gesundheitseinrichtungen für das Silodenken verantwortlich? Und inwiefern kann ein prozessorientiertes Organisationsmodell dieses Verhalten durchbrechen und eine effektivere Zusammenarbeit fördern?
Diese Fragen gewinnen angesichts der wachsenden Herausforderungen im Gesundheitswesen stetig an Relevanz. Spitäler stehen zunehmend vor der Aufgabe, eine steigende Anzahl an Patient:innen mit oft komplexen und chronischen Erkrankungen zu behandeln. Der technologische Fortschritt und spezialisierte Therapien erfordern eine enge, interdisziplinäre Zusammenarbeit, die jedoch durch Silodenken und starre Organisationsstrukturen behindert wird. Agilere, prozessorientierte Organisationsmodelle könnten einen guten Beitrag leisten, um diesen steigenden Anforderungen gerecht zu werden.
Methoden und Vorgehen im Projekt
Eine semi-strukturierte Literaturrecherche wurde durchgeführt, um aktuelle Studien zu Silodenken und Organisationsstrukturen im Gesundheitswesen zu analysieren. Dazu wurden relevante wissenschaftliche Datenbanken wie PubMed und Google Scholar genutzt. Eingeschlossen wurden Studien ab 2000, die sich auf westliche Gesundheitssysteme beziehen und praxisnahe Empfehlungen bieten. Die ausgewählten Studien werden thematisch ausgewertet.
Folgende Keywords wurden verwendet und mit Booleschen Operatoren kombiniert: traditional structure (traditionelle Struktur), silo (Silo), process-oriented (prozessorientiert), collaboration (Zusammenarbeit), integration (Integration), barriers (Barrieren), change (Veränderung), teamwork (Teamarbeit), healthcare (Gesundheitswesen).
Ergebnisse und Erkenntnisse
Spitäler sind heute meist nach Fachdisziplinen wie Chirurgie, Innere Medizin oder Radiologie organisiert. Diese Struktur steht jedoch im Widerspruch zu den komplexen Patientenpfaden, die häufig fächerübergreifend verlaufen. Dadurch entstehen Kommunikationsprobleme, Ineffizienzen und Qualitätsmängel, die zu Verzögerungen und einer schlechteren Patientenversorgung führen (De Ramón Fernández et al., 2020; Deneckere et al., 2013).
Aus der Durchsicht der Literatur ergibt sich die starke Bedeutung der Organisationsgestaltung auf das Silodenken. Erfreulicherweise weisen mehre Studien auch konkret auf, wie dieses Silodenken durch gezielte organisatorische Massnahmen überwunden werden kann. Beispielsweise betonen Bento et al., (2020), dass die Ausrichtung auf gemeinsame Ziele die Zusammenarbeit zwischen Abteilungen fördert und patientenorientierte Erfolge unterstützt. Ein weiterer wichtiger Schritt ist der Abbau struktureller und organisatorischer Barrieren. So helfen laut de Waal et al., (2019) physische Nähe und interdisziplinäre Besprechungen, Kommunikationslücken zu schliessen und die Zusammenarbeit zu stärken.
Prozessorientierte Organisationsmodelle zeigen ein erhebliches Potenzial, Silodenken effektiv zu durchbrechen. Diese Modelle fördern die horizontale Vernetzung von Abteilungen und die Einführung klarer, prozessbasierter Strukturen, die sich an den Patientenwegen orientieren. Ein prozessorientiertes Modell fokussiert sich darauf, Arbeitsabläufe entlang des gesamten Patientenweges zu gestalten (Siehe Abbildung 1). Dadurch werden traditionelle Abteilungsgrenzen durchbrochen und eine durchgängige, interdisziplinäre Zusammenarbeit ermöglicht. Dabei wird nicht nur die Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen verbessert, sondern auch die Effizienz in der Patientenversorgung gesteigert (Vera & Kuntz, 2007).
Um die positiven Effekte solcher Modelle weiter zu verstärken, können zusätzliche organisatorische Massnahmen ergriffen werden. Dazu gehört beispielsweise die Etablierung übergreifender Teams und zentraler Stellen, die die Zusammenarbeit zwischen den Fachbereichen fördern. Auch angepasste Anreizsysteme könnten eingesetzt werden, um die teamübergreifende Kooperation und die Ausrichtung auf gemeinsame Ziele zu unterstützen (de Waal et al., 2019). Darüber hinaus zeigen Studien wie die von Goodell et al. (2009), dass durch die Implementierung von Case Management nicht nur die Effizienz gesteigert, sondern auch die Fehlerquote reduziert werden kann. Case Manager fungieren als zentrale Schnittstellen, die den Informationsfluss zwischen den Fachdisziplinen verbessern und so zur Optimierung der Versorgung beitragen. Im nächsten Abschnitt werden konkrete Fallstudien den Einsatz solcher Massnahmen in der Praxis illustrieren.
Wie gesehen, zeigt die Implementierung von Massnahmen zur Überwindung von Silodenken grosses Potenzial, ist jedoch mit verschiedenen Hindernissen konfrontiert. Widerstand gegen Veränderungen, sowohl auf individueller als auch organisatorischer Ebene, erschwert oft die Akzeptanz neuer Prozesse (Inversini, 2005). Zudem stellen unzureichende Ressourcen, wie begrenzte Zeit, finanzielle Mittel und inkompatible IT-Systeme, eine Barriere für die notwendige Vernetzung und den effizienten Informationsaustausch dar. Fehlende klare Verantwortlichkeiten und ein unzureichendes Change Management können die Nachhaltigkeit der Implementierung zusätzlich gefährden (Reimer, 2009).
Angesichts dieser Hindernisse wird deutlich, dass das Gesundheitswesen neue Wege einschlagen muss. Isolierte Arbeitsweisen müssen durch vernetzte, kooperative Prozesse ersetzt werden, um den Anforderungen gerecht zu werden. Prozessorientierte Organisationsmodelle bieten einen Ansatz, um Silodenken aufzubrechen und die Zusammenarbeit zwischen Abteilungen zu verbessern. Durch die Bildung interdisziplinärer Teams und die Ausrichtung auf gemeinsame Ziele kann eine Versorgung geschaffen werden, die effizienter, patientenzentrierter und von höherer Qualität ist und somit den modernen Anforderungen besser entspricht.
Abbildung 1: Funktionale vs. prozessorientierte Arbeitsorganisation (Binner, 2010)
Empfehlungen für die Praxis
Best Practices
Die folgenden zwei Best Practices zeigen, wie erfolgreiche Implementierungen von prozessorientierten Ansätzen und anderen integrativen Modellen Silodenken im Gesundheitswesen überwunden werden können:
1. Virginia Mason Franciscan Health (VMFH)
Das Versorgungsnetzwerk setzt gezielt Massnahmen um, um Silodenken zu adressieren und die Zusammenarbeit im Gesundheitswesen zu verbessern. Ein zentraler Ansatz sind die Rapid Process Improvement Workshops (RPIWs), bei denen Teamleitende und Mitarbeitende aus verschiedenen Bereichen zusammenkommen, um gemeinsam Lösungen für eine bessere Kommunikation und Zusammenarbeit zu entwickeln (Stewart, 2023).
Zusätzlich nutzt VMFH visuelle Management-Boards, die den Informationsaustausch innerhalb der Teams transparenter gestalten und den Arbeitsfluss effizienter machen. Standardisierte tägliche Huddles ermöglichen es, wichtige Informationen schnell zu teilen und die Teamarbeit zu stärken (Stewart, 2023).
2. Brigham and Women’s Hospital (BWH)
Das Spital setzt ein koordiniertes «End-stage renal disease (ESRD)»-Programm um, das die Zusammenarbeit zwischen Dialysezentren, Krankenhäusern und primären Versorgungsteams stärkt, um die Versorgung von Menschen mit Nierenversagen zu verbessern. Pflegekoordinierende identifizieren Personen mit erhöhtem Risiko, führen Nachsorgegespräche und koordinieren Behandlungen, um Notfallbesuche und Hospitalisierungen zu reduzieren. Die enge Vernetzung und der Austausch von Gesundheitsdaten fördern eine effizientere und patientenzentrierte Betreuung (Kelly et al., 2019).
Handlungsempfehlungen
Eine radikale Reorganisation der Aufbaustruktur einer Gesundheitseinrichtung wird nur selten möglich sein. Deswegen können folgende sieben kleinere Handlungsempfehlungen, abgeleitet aus der wissenschaftlichen Literatur, für die Praxis hilfreich sein.
- Gemeinsame Ziele definieren: Abteilungen auf gemeinsame, patientenorientierte Ziele ausrichten, um die Zusammenarbeit zu stärken und isoliertes Arbeiten zu überwinden (Bento et al., 2020).
- Technologische Vernetzung fördern: Kompatible IT-Systeme und gemeinsame elektronische Gesundheitsakten erleichtern den Datenaustausch und erhöhen die Patientensicherheit (Deneckere et al., 2013).
- Kommunikationsstrukturen verbessern: Visuelle Management-Boards und Huddles optimieren den Informationsaustausch und erhöhen die Transparenz innerhalb der Teams (Stewart, 2023).
- Interdisziplinäre Teams etablieren: Interdisziplinäre Teams aus verschiedenen Fachbereichen arbeiten gemeinsam an patientenzentrierten Zielen, um die Zusammenarbeit zu fördern und die Versorgung zu verbessern (Vera & Kuntz, 2007).
- Koordinierende Rollen und Case Management einführen: Pflegekoordinierende und Case Manager fungieren als zentrale Schnittstellen, verbessern die Kommunikation zwischen Fachbereichen und fördern die Integration von Behandlungsinformationen, um Fehler zu vermeiden (Berry-Millett & Bodenheimer, 2009).
- Prozessoptimierung durch Workshops: Workshops zur Prozessoptimierung bringen Fachkräfte aus verschiedenen Bereichen zusammen, um gemeinsam effiziente Arbeitsabläufe zu entwickeln und Silodenken abzubauen(Stewart, 2023).
- Aktiv Change Management betreiben: Gezieltes Change Management mit klaren Verantwortlichkeiten und Schulungen baut Widerstände ab und fördert die Akzeptanz neuer Arbeitsweisen (Reimer, 2009).
Literatur und andere Quellen
Bento, F., Tagliabue, M., & Lorenzo, F. (2020). Organizational Silos: A Scoping Review Informed by a Behavioral Perspective on Systems and Networks. Societies, 10(3), Article 3. doi.org/10.3390/soc10030056
Berry-Millett, R., & Bodenheimer, T. S. (2009). Care management of patients with complex health care needs. The Synthesis project. Research synthesis report, (19), 52372.
Binner, H. F. (2010). Handbuch der prozessorientierten Arbeitsorganisation: Methoden und Werkzeuge zur Umsetzung (4. Aufl). Hanser.
Braithwaite, J., Wears, R. L., & Hollnagel, E. (2015). Resilient health care: Turning patient safety on its head†. International Journal for Quality in Health Care, 27(5), 418–420. doi.org/10.1093/intqhc/mzv063
De Ramón Fernández, A., Ruiz Fernández, D., & Sabuco García, Y. (2020). Business Process Management for optimizing clinical processes: A systematic literature review. Health Informatics Journal, 26(2), 1305–1320. doi.org/10.1177/1460458219877092
de Waal, A., Weaver, M., Day, T., & van der Heijden, B. (2019). Silo-Busting: Overcoming the Greatest Threat to Organizational Performance. Sustainability, 11(23), Article 23. doi.org/10.3390/su11236860
Deneckere, S., Euwema, M., Lodewijckx, C., Panella, M., Mutsvari, T., Sermeus, W., & Vanhaecht, K. (2013). Better interprofessional teamwork, higher level of organized care, and lower risk of burnout in acute health care teams using care pathways: A cluster randomized controlled trial. Medical Care, 51(1), 99–107. doi.org/10.1097/MLR.0b013e3182763312
Inversini, S. (2005). Wirkungsvolles Change Management in Abhängigkeit von situativen Anforderungen: Organisationale Veränderungsprozesse im Spannungsfeld von betrieblichen Voraussetzungen und Umweltanforderungen ... publishup.uni-potsdam.de/frontdoor/index/index/docId/481
Kelly, Y. P., Goodwin, D., Wichmann, L., & Mendu, M. L. (2019). Breaking Down Health Care Silos. Harvard Business Review. hbr.org/2019/07/breaking-down-health-care-silos
Kitch, B. T., Cooper, J. B., Zapol, W. M., Marder, J. E., Karson, A., Hutter, M., & Campbell, E. G. (2008). Handoffs causing patient harm: A survey of medical and surgical house staff. Joint Commission Journal on Quality and Patient Safety, 34(10), 563–570. doi.org/10.1016/s1553-7250(08)34071-9
Reimer, M. (2009). Verhaltensbedingte Hürden als Gegenstand des Changemanagement. In I. Behrendt, H.-J. König, & U. Krystek (Hrsg.), Zukunftsorientierter Wandel im Krankenhausmanagement: Outsourcing, IT-Nutzenpotenziale, Kooperationsformen, Changemanagement (S. 337–355). Springer. doi.org/10.1007/978-3-642-00935-8_15
Stewart, R. (2023). 5 Tactics to Break Down Silos and Support Cross-Functional Collaboration. Virginia Mason InstituteTM. www.virginiamasoninstitute.org/5-tactics-to-break-down-silos-and-support-cross-functional-collaboration/
Trachsel, V., & Fallegger, M. (2017). Silodenken überwinden. Controlling & Management Review, 61(7), 42–49. doi.org/10.1007/s12176-017-0087-2
Vera, A., & Kuntz, L. (2007). Prozessorientierte Organisation und Effizienz im Krankenhaus. Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung, 59(2), 173–197. doi.org/10.1007/BF03371692
Zitierung des Beitrags
Der Beitrag zu Silodenken und wissenschaftlich fundierten Ansätzen wie dieses im Gesundheitswesen überwunden werden können.